Vieles kann, nichts muss
Eines Tages, Baby – Julia Engelmann
Es ist doch so:
wir können alles sein,
Wir haben, was wir brauchen,
Und wo immer wir sind,
da gehören wir auch hin.
…Das sind Julia Engelmanns Schlussworte in ihrem Erstlingswerk Eines Tages, Baby. Der Arbeitstitel, der den Anfangsversen des via YouTube in den Äther katapultierten „One Day / Reckoning Text„s entstammt, ist den meisten sicherlich noch ein Begriff. Die 92 Seiten ihres nunmehr schriftlichen Debüts lesen sich recht schnell und locker weg. Viele Gedanken kann ich nachempfinden, wenngleich der Grundtenor immer wieder derselbe ist: Vieles kann, nichts muss. Gott sei Dank. Denn wie soll “Müssen” funktionieren, wenn man nach zweiundzwanzig Jahren auf dieser Erde noch immer nicht ganz zu sich selbst gefunden hat, nicht weiß, wer, verdammt nochmal, man eigentlich ist und was das Leben noch so alles für einen bereithält? Die Schlussworte lesen sich da wie eine Art Beruhigungsmantra. Letztlich trifft Engelmann damit allerdings den Kern der Zeit. Ich mit meinen Sechsundzwanzigeinhalb möchte behaupten, dass sich das Gefühl, in der Luft zu hängen, das Moment des neu Erfindens zu gegebener Zeit immer und immer wieder ereignen wird – solange wir leben. Zu Beginn des kleinen Lyrikbandes fragt die Autorin nach dem Sinn der Schlussworte, die sie bereits hier aufgreift und über deren Bedeutung sie sich erst am Ende klar wird. Denkt man darüber nach, ist evtl. schon in den Anfangsversen die Ursache für das ziellose Umhertorkeln meiner Generation versteckt: Wir können viel (zu viel) erreichen, denn die Welt steht uns mit all ihren abertausenden Möglichkeiten offen. Und trotzdem ist es oft so schwer Entscheidungen zu treffen. Oder gerade deshalb? Man kann sich denken, was jetzt kommt – das Gesetzt der Logik erfordert sie, die älteste aller uralten Fragen: Was war wohl zuerst da? Das Huhn oder das Ei? Die innere Zerrissenheit, ergo Orientierungslosigkeit oder die unendliche Freiheit alles tun zu können, wonach uns der Sinn steht?
Auch sonst schlägt die gute Julia viele Themen unserer schnelllebigen Zeit an: Alleinsein, Selbstzweifel, Reizüberflutung und die Angst vor Verantwortung. Alles scheint sowohl in ihrem Texten als auch in der Realität eng miteinander verwoben. Manches Gedicht wirkt deshalb vielleicht ein wenig unstrukturiert. Auch die Anordnung der Gedichte/Themen scheint willkürlich gewählt, was zunächst ein wenig verwirrt. In Anbetracht der Tatsache, dass es schwierig ist auseinanderzuklamüsern, WIE sich WAS bedingt und in welcher Abhängigkeit angesprochene Themen zueinander stehen, sei das allerdings verziehen und wohl sogar unter „Stilmittel“ zu verbuchen. Zwar strotzt der Lyrikband nur so vor Weltschmerz, wirklich tiefgreifende Themen rund um das weltpolitische Geschehen darf der geneigte Leser jedoch nicht erwarten. Dafür gibt es des Öfteren Ratschläge zum Besserleben, die es vermögen mitzureißen und zeigen wollen, dass es aus der Planlosigkeit immer auch einen Ausweg geben kann, nämlich zu handeln statt immer nur davon zu reden.
Nimm die Steine aus dem Weg
und dann feuer einen Startschuss,
lass die Leinen Los, fahr auf See
und erneuere deinen Status.
Verlass mal die Metaebene,
veränder mal die Draufsicht,
so sicher es auch scheint:
Leben in Gedanken taugt nichts.
Eines Tages, Baby ist ein netter Zeitvertreib für Zwischendurch – erfrischend und seelenerhellend. Gleichzeitig regen die, ohne Zweifel, intelligent verfassten, aber dennoch leicht zugänglichen Verse zum Nachdenken an und werfen Fragen nach dem Sein und Werden auf, die uns, unabhängig vom Alter, alle mehr oder weniger betreffen. fg