Blick in die Angst – Chevy Stevens
Meine Freude war groß, als ich Anfang September endlich Chevy Stevens dritten Thriller „Blick in die Angst“ im Regal der Buchhandlung stehen sah. Da ich „Still Missing – Kein Entkommen“ und „Never Knowing – Endlose Angst“ bereits mein Eigen nennen darf und beide Bücher für gut bis sehr gut befunden habe, habe ich nicht lange gefackelt und ihren neuesten Schmöker mit zur Kasse genommen. Zu Hause habe ich mich dann gleich drüber hergemacht, die Freude hielt allerdings nur die ersten paar Seiten an. Zäh wie ein Kaugummi leitet die Hauptfigur Dr. Nadine Lavoie – Psychaterin im Krankenhaus von Victoria auf Vancouver Island (diesmal steht sie selbst im Mittelpunkt des Geschehens) – in die Geschichte ein. Diese „Einleitung“ zieht sich bis über die Hälfte des Buches. Bis dahin passiert mehr oder weniger gar nichts. Der Leser erfährt von Nadines Kindheit in einer als Hippies getarnten Sekte, mit der sich die Ärztin durch eine Patientin nach langer Zeit wieder konfrontiert sieht. Stückchenweise treten immer mehr unangenehme Erinnerungen an jene Zeit zu Tage, die sie bis dahin verdrängt hatte. Allmählich erklärt sich auch die Klaustrophobie, an der die Psychaterin seit Jahrzehnten leidet. Nach gefühlten 300 Seiten beginnt Nadine, ihre Überlegungen, der Sekte den Garaus zu machen, in die Tat umzusetzten. Man könnte denken, die Geschichte gewinnt nun an Fahrt – weit gefehlt. Chevy Stevens gelingt es diesmal so gar nicht, irgendeine Art von Spannung aufzubauen. Nadine fährt überall auf Vancouver Island umher, befragt Fremde und alte Bekannte, sammelt Beweise gegen die Sektenführer, schildert vor allem aber die schöne Landschaft. Nebenbei ist sie auch immer wieder auf der Suche nach ihrer drogenabhängigen Tochter, die nach dem Tod des Vaters völlig auf die schiefe Bahn geraten ist und die meiste Zeit auf der Straße verbringt. Diese und andere Beziehungen werden eingehend analysiert und langweilen ungemein, weil vieles davon gänzlich irrelevant ist und von der eigentlichen Geschichte ablenkt.
Chevy Stevens dritter Thriller ist alles, nur eben kein Thriller. Auf die Spannung wartet man bis zum Schluss und Angst verspürt man nahezu an keiner Stelle des Buches. Vielmehr erwarten den Leser schöne Landschaftsporträts und eine Reihe von Psychogrammen verschiedenster Charaktere und Biographien. Probleme über Probleme werden gewälzt: Kindesmissbrauch, Sektenproblematik, Mord und Todschlag, Drogenabhängikeit, verstorbene Lebenspartner und, last but not least, schlechte Kindheiten – die Autorin hat all das in nur ein Buch gepackt. Man müsste meinen, bei so viel Abgründigem müsste es doch ein Leichtes sein, einen guten Thriller zu schreiben. Aber gerade das scheint hier das Problem zu sein: Das Spektrum an menschlichen Grausamkeiten ist viel zu groß und lässt die Story konstruiert und unglaubwürdig erscheinen. Die sehr flach gehaltene Spannungskurve und das viele Geplänkel drumherum tun ihr übriges. Nicht zuletzt fehlt es vor allem der Hauptfigur an Charakter. So manches Mal hätte ich die viel zu gutmütige und naive Nadine am liebsten mal durchgeschüttelt und ihr befohlen, endlich aufzuwachen.
Man ahnt es schon, ich kann „Blick in die Angst“ nicht weiterempfehlen. Es tut mir fast Leid, das schreiben zu müssen. Vor allem den Chevy-Stevens-Einsteigern rate ich, nicht mit diesem Buch zu beginnen. Oder vielleicht doch? War meine Erwartungshaltung nach den ersten zwei Büchern vielleicht so hoch, dass ich nur noch enttäuscht werden konnte? Wenn dem so wäre, müsste ich als Einstiegslektüre wohl doch dazu raten. Oder ihr lasst das das dritte Buch einfach aus, dann seid ihr auf der sicheren Seite.^^ fg